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19. Dezember 2020
Auf dem Weg zum kleinen König (eine Geschichte von Barbara Rose)
Franz Fink hatte sein Vogelleben satt. Gründlich satt! Ständig schnappt ihm jemand die Beute vor der Nase weg. Gerade will Franz eine winzige, vertrocknete Heidelbeere verspeisen. Da kommt die dicke Amsel vom Nachbarn angeflattert. Sie packt die verschrumpelte Frucht mit ihrem gelben Schnabel und saust auf den höchsten Ast. „Das ist mein Futter!“, piepst Franz empört. „Gestern hat der Specht meinen Getreidehalm geklaut. Vorgestern hat das Eichhörnchen mein Apfelstück gemopst. Bitte lass mir die kleine Beere. Du hast schon genug Winterspeck!“ Doch die Amsel denkt gar nicht daran. Sie blinzelt mit den Murmelaugen und –happs!- ist die Frucht in ihrem Schnabel verschwunden. Weg. Fort. Aufgefuttert.
Entrüstet hüpft Franz auf seinem Ast auf und ab. „Gemein ist das. Richtig fies und…oh…hoppla!“
Eine Schneelawine löst sich von den Zweigen, saust ratzfatz nach unten und platsch dort –wosch!- mitten auf die Köpfe von zwei kräftigen Hirschen. Franz würde sich am liebsten in einer Baumhöhle verstecken. Seine Beinchen schlottern vor Angst. Oje! Wenn das nicht schon wieder Ärger gibt. Mit einem Ruck schütteln die Hirsche die weißen Pelzmützen ab. „Wer war das?“, brummt der eine. „Äh…‘tschuldigung“, zwitschert Franz zaghaft. Der zweite Hirsch gähnt. „Lächerlich. Nur ein kleiner Fink.“
„Stör uns nicht, du Wicht!“, knurren beide. „Wir besprechen wichtige Dinge.“
„Heute ist ein König zur Welt gekommen“, flüstert der erste Hirsch. „Echt? Erzähl!“, drängelt der zweite.
Gespannt hört Franz, dass ein ungewöhnlicher Stern am Himmel leuchten soll. Ein Weihnachtsstern, der zum König führt, einem kleinen König, der aber trotzdem stark und mächtig ist und einen großen Auftrag hat.
„Ein kleiner König, der stark und mächtig ist? Das ist unmöglich! Wir Kleinen kriegen doch immer eins auf die Mütze.“ Aufgeregt sieht sich Franz um und entdeckt tatsächlich einen Stern. Viel heller als alle anderen leuchtet er.
„Das ist er! Der Stern, der zum kleinen König führt! Dem muss ich sofort folgen!“
Ein eisiger Wind pfeift dem kleinen Fink um den Schnabel, als er losfliegt. Dicke, feuchte Schneeflocken fallen vom Himmel. Doch unbeirrt folgt Franz dem leuchtenden Stern, der ihm den Weg zeigt.
Weit ist er noch nicht gekommen, da läuft ihm ein Mäuschen über den Weg. Es ist Mimi Waldmaus. Und sie ist sauer! Mausmäßig sauer!
„Dieses gierige Eichhörnchen! Nur weil es größer ist als ich, schnappt es mir –wupps!- die Nuss vor den Pfoten weg. Es hat einen riesigen Vorrat, aber mir gönnt es keinen Krümel.“ „Das kenne ich. Immer auf die Kleinen!“, ruft Franz ihr zu. „Aber ich habe gehört, dass es einen kleinen König mit großer Macht geben soll. Vielleicht kann er uns helfen.“
„Prima Idee!“ Mimi kräuselt ihr Schnäuzchen. „Da bin ich mausfix mit dabei!“
Kaum sind sie zwei Tannen weiter, stoßen Franz und Mimi auf Henri Wiesel. Seine Knopfaugen sind dunkel vor Traurigkeit. Sein Schwänzchen zittert. „Was bedrückt dich?“, fragt Mimi besorgt. „Du siehst so traurig aus.“
„Der Bär hat sich unser Winterquartier geschnappt.“ Henri blinzelt verzagt. „Ich kann mich ja nicht wehren gegen einen so großen Kerl. Jetzt haben wir kein zu Hause mehr –ich, meine Frau und unsere acht Kinder.“
„Das hat man davon, wenn man ein Winzling ist!“ Franz schlägt energisch mit den Flügeln. „Aber es gibt Hoffnung: einen König, hier ganz in der Nähe. Klein, aber sehr mächtig. Mimi und ich suchen ihn gerade.“ Die Maus nickt eifrig. „Bestimmt weiß er eine Lösung für dein Problem.“ „Großartig! Da schließe ich mich sofort an!“, ruft Henri.
„Auf zum kleinen König!“, schmettert Franz. Mutig folgen die drei Waldtiere dem hellen Weihnachtsstern am Himmel. Eine dicke Schneeschicht bedeckt den Boden. Die Bäume tragen weiße Mützen. Kalt ist es hier und sehr still. Doch die drei fliegen und stapfen unbeirrt durch den Winterwald. Als Mimi die Beine schmerzen, darf sie auf Henris Rücken krabbeln. Mäuschenstill sitzt sie dort und passt auf, dass Henri nicht vom Weg abkommt. Und als Franz vor Kälte zittert, kann er sich an Mimis Mäusebauch wärmen. Einer ist für den anderen da, so wie es unter Freunden üblich ist.
Endlich erreichen sie den Stall, über dem der Weihnachtsstern leuchtet. „Was für ein Glanz!“, staunt Franz.
„Wir sind nicht die Einzigen, die den kleinen König suchen“, stellt Mimi fest. Neugierig trippeln die drei Freunde in den Stall. Mittendrin steht eine Krippe. Franz, Mimi und Henri spähen vorsichtig hinein. Sie staunen nicht schlecht.
„Das soll ein König sein?“, Franz plustert sich auf. „Liegt einfach so da. Wie soll der etwas bewirken können?“
„Der ist genauso ein Winzling wie wir. Sogar noch kleiner!“, knurrt Henri. „Der ganze Weg war umsonst.“
„Ohjemine“, stöhnt Mimi enttäuscht. „Der kann ja noch nicht mal eine Nuss knacken. Das war’s dann wohl. Aus die Maus!“
„Seht doch!“ Franz starrt nach oben. Mimi und Henri folgen seinem Blick. Durch die Luke im Dach können sie bis in den Himmel sehen. Dort leuchtet der Weihnachtsstern noch heller als zuvor! Sein Licht tupft goldene Kringel in den Schnee auf die Schafe und die Hirten. Bis weit in den Stall leuchtet es hinein. Genau auf die Krippe mit dem Kind. Erst jetzt entdecken Franz, Mimi und Henri den Engel, der über dem Stall schwebt. So ein großer Schutzengel für so einen kleinen König! Mit einem Mal öffnet sich die Stalltür und drei Männer treten ein.
„Wie ungewöhnlich sie aussehen“, wispert Henri.
„Ruhe!“, muht der Ochse leise. „Hört lieber mal zu, ihr Kleinen da drüben.“ Franz, Mimi und Henri verstecken sich flink im Stroh und beobachten die Männer. Genau vor der Krippe fallen sie voller Ehrfurcht auf die Knie.
„Wir sind Sterndeuter und kommen von weit her“, sagt der erste. „Wir wollen unseren König ehren.“
„Psst, Sterndeuter, hört mal“, flüstert Franz. „Seid ihr sicher, dass ihr hier richtig seid? Dieser König ist winzig!“
„Genau richtig“, bestätigt der erste. „Es ist ein Glück, dass uns solch ein kleiner König zur Rettung der Welt geschickt wurde“, erklärt der zweite. „Dazu gehört jede Menge Mut!“
„Mut?“, wispert Mimi. „Wie sollen wir Kleinen denn mutig sein?“
„Mit Freundlichkeit, Offenheit und Ehrlichkeit können gerade die Kleinsten die Herzen der anderen gewinnen“, betont der dritte. „Das nenne ich Mut!“ „Aber die Großen ärgern uns doch immer“, knurrt Henri. Der erste Sterndeuter lächelt. „Dann müsst ihr Kleinen eben für mehr Frieden sorgen.“ Behutsam legen die drei Männer wertvolle Geschenke vor der Krippe ab. Dann verneigen sie sich und verschwinden.
„Gerade die Kleinsten können für Frieden sorgen“, wiederholt Mimi. Henri nickt. „Wenn sie nur mutig sind.“
„Wir sind klein. Wir sind mutig. Und wir werden für Frieden in unserem Wald sorgen“, fiept Franz. „Heute noch! Bei einem besonderen Weihnachtsfest im Wald! Schnell nach Hause, Freunde!“
Wieselflink saust Henri los. Mimi klammert sich an seinen Pelz. Franz hält sich an ihrem Schwanz fest.
„Kommt alle zum großen Weihnachtsfest“, flötet Franz, als sie zu Hause ankommen. „Treffpunkt ist an der alten Tanne. Es gibt große Neuigkeiten!“
Das wollen sich die Waldbewohner natürlich nicht entgehen lassen. In Windeseile sausen, fliegen und hüpfen alle zum Treffpunkt.
„Es ist höchste Zeit, dass wir alle in Frieden miteinander leben!“, flötet Franz vom höchsten Zweig aus. „Aber ich habe nichts zu futtern. Kannst du, Amsel, die Beeren nicht mit mir teilen? Dafür singe ich dir mein schönstes Winterlied vor.“
Wie peinlich! Der Fink verhungert! Darüber hat die Amsel noch nie nachgedacht.
„Auch ich bin arm wie eine Kirchenmaus“, sagt Mimi. „Möchtest du mir nicht etwas abgeben, Eichhörnchen? Dafür helfe ich dir auch gern beim Suchen deiner Vorräte.“ Das Eichhörnchen nickt begeistert. Prima Idee! Ständig vergisst es die Verstecke. Da könnte es gut Hilfe brauchen.
„Ich habe eine große Familie“, erzählt Henri. „Ist in der Höhle nicht Platz für uns alle, Bär? Zusammen ist es bestimmt lustiger.“
Bedächtig wiegt der Bär den Kopf. Warum eigentlich nicht?
„Ihr fragt euch vielleicht, warum wir auf einmal über unsere Sorgen sprechen“, ruft Franz den Waldtieren zu. „Das ist die große Neuigkeit: Heute ist ein kleiner König geboren worden. Er hat uns Mut gemacht. Er will, dass wir alle gemeinsam und in Frieden leben. Große und Kleine, Starke und Schwache. Und das sollten wir ab jetzt tun.